Der kleine Unterschied
Als Keith Richards noch in Dartford wohnte, war er davon überzeugt, meilenweit der einzige Chuck-Berry-Fan zu sein. Doch dann traf er eines Tages im Dezember 1961 am Bahnhof Mick Jagger, der nicht nur Berrys Album „Rockin’ At The Hops” unterm Arm trug, sondern auch eins von Muddy Waters. So kamen die beiden ins Gespräch, und der Rest ist Geschichte: Im Juli 2012 haben die Rolling Stones ihr 50-jähriges Bandjubiläum gefeiert.
Heute würden sie wahrscheinlich aneinander vorbeilaufen und sich nie kennen lernen, weil beide mit einem iPod oder Smart Phone verkabelt und so von der Außenwelt abgeschirmt wären. Doch damals waren Schallplatten noch Mangelware. Man musste schon richtig heiß auf Rhythm & Blues sein, um sich von seinem Taschengeld bei einem Mail-Order-Versand aus Chicago ein paar rare Scheiben zu bestellen, wie das Mick Jagger getan hat. Und wenn man sich mit Freunden traf, nahm man die raren Exemplare halt mit, damit sie vorgespielt oder aufgenommen werden konnten.
Filesharing gab es also auch schon lange, bevor das Internet unser Leben so beschleunigte und uns zumindest theoretisch in die Lage versetzte, nahezu jedes Stückchen Musik hören zu können, das jemals konserviert wurde. Allein die Auswahl an Musik war wesentlich bescheidener, und die Möglichkeit, sie zu kopieren, weitaus umständlicher und zeitraubender.
Mit der Einführung der Cassette war das Hören später nicht mehr an einen Ort gebunden und man konnte erstmals in der Geschichte der Tonaufzeichnungen seine Lieblingsmusik überall hin mitnehmen. Das Hören von Schallplatten, insbesondere von LPs, war aber längst zum Ritual geworden, und für jeden, der in den 1960ern und 1970ern aufgewachsen ist, verbinden sich damit Erinnerungen, die eng verknüpft sind mit seiner eigenen Entwicklung.
Meine Eltern besaßen nie einen Plattenspieler oder eine Musiktruhe, sodass ich mir meine erste LP relativ spät kaufte — das Juicy-Lucy-Album mit dem damals skandalösen Klappcover, auf dem eine mit Früchten garnierte Lucy so zu sehen war, wie der liebe Gott sie geschaffen hatte. Mit dem Kauf musste ich warten, bis meine Schwester sich einen Plattenspieler zulegte, sehe es aber noch heute vor mir, wie ich damit 1969 im Schallplatten-Center am Steintor in Hannover die Treppe zu den Kabinen hinaufstieg, in denen man sich die Platten anhören konnte, damit man die Katze nicht im Sack kaufen musste. Zuvor war mir von einem Angestellten noch gezeigt worden, wie ich eine Schallplatte anzufassen habe, und hinterher wurde penibel überprüft, ob die abgehörte Scheibe auch keinen Kratzer abbekommen hat.
Leider wurde dieser Service schon bald abgeschafft, weil manch einer die Zeit nutzte, um in den Kabinen mit seiner Freundin zu fummeln, ohne auch nur eine Platte zu kaufen. Und außerdem benötigte man viel zu viel Personal, um den Schallplattenklau zu verhindern, der zur Zeit der Jugendrevolte und Studentenbewegung schwer in Mode war.
Plattenläden waren damals nicht nur Geschäfte, in denen gut informierte und enthusiastische Fans jobbten und ihresgleichen berieten. In den späten Sechzigern und frühen Siebzigern des letzten Jahrhunderts waren sie auch Fluchtpunkt von Schülern und Jugendlichen, denen daheim die Decke auf den Kopf fiel und die etwas Abstand von ihren autoritären Eltern brauchten.
In vielen Plattenläden durfte man damals noch rauchen, ohne dass man von einem Erwachsenen gefragt wurde, ob man schon sechzehn sei. Man konnte dort ganze Nachmittage verbringen und, wenn man Glück hatte, eine der heißbegehrten Platten von Blodwyn Pig oder Steamhammer ergattern, von denen es in jeder Stadt immer nur sehr wenige Exemplare gab — die sich die Verkäufer meistens selbst sicherten, weil sie die Ersten waren, die den Zugriff darauf hatten. Denn damals konnte man Schallplatten nicht einfach bei einem Vertrieb oder einer Plattenfirma bestellen, weil die nur über ein sehr begrenztes Repertoire an neuen Bands verfügten. In den Sechzigern fuhr der Chef eines Plattenladens oft noch persönlich einmal im Monat nach London und kaufte dort neue Ware für sein Geschäft ein.
Daheim oder bei Freunden packte man das kostbare Vinyl dann so vorsichtig und aufgeregt aus, wie man beim ersten Mal den BH seiner Freundin öffnete. Und wenn sich die schwarze Scheibe auf dem Plattenteller drehte, der Tonarm sich langsam in die Rille senkte und es aus den Boxen knackte, bevor die ersten Takte erklangen, nahm man erwartungsvoll auf den Matratzen Platz, die damals einfach auf dem Boden lagen, weil Betten was für Spießer waren. Geradezu andächtig hörte man die neue Platte gleich mehrmals hintereinander an, trank dazu irgendeinen parfümierten Tee und rauchte starke französische Zigaretten, weil deutsche Marken wie Ernte 23, Lux oder HB einfach nicht cool waren. Und manchmal auch Haschisch bzw. das, was einem als Haschisch für fünf D-Mark das Gramm verkauft worden war.
Mit dem kommerziellen Siegeszug der Rock- und Popmusik wurden aus den Plattenläden, die zugleich Zentren der adoleszenten Kommunikation waren, allerdings schon bald Tempel des Konsums, sterile Verkaufsstätten, die immer mehr zu Elektrogroßmärkten verkamen. Und dann wurde auch noch die gute alte Schallplatte durch die seelenlose CD ersetzt, was dazu wie die Faust aufs Auge passte.
Als die Compact Disc Anfang der Achtzigerjahre in Deutschland vorgestellt wurde, trafen sich die Chefs aller großen Plattenfirmen in Langenhagen bei Hannover und hüpften wie von Sinnen auf den CDs herum, um zu demonstrieren, wie robust die Dinger sind. In Neil Youngs Ohren klangen CDs, „verglichen mit echter Musik“, jedoch einfach nur furchtbar. Die kleinen Silberlinge seien gerade mal gut genug, wetterte er, „um deinem Ohr vorzutäuschen, du würdest Musik hören“.
Lou Reed hielt es für „vollkommen sinnlos“, sich für das Cover einer CD „noch Mühe mit den Fotos zu geben“. Ihn regte vor allem auf, dass „diese grässlichen Kunststoffdinger“ oft schon zersplittern, „sobald man sie nur berührt“. Und seit es iTunes gibt, kaufen immer weniger Konsumenten diesen „minderwertigen Tonträger“ und speichern Musik lieber auf ihrem iPhone oder ihrem Rechner. Das haptische Erlebnis einer CD ist eben so gering, dass man auf den physikalischen Tonträger gleich ganz verzichten kann. Das Verschwinden des Vinyls hat mp3 erst möglich gemacht!
Jack White, der mit den White Stripes, den Raconteurs und mit Dead Weather Aufsehen erregt hat und als Produzent von Radiohead oder den Rolling Stones umworben wird, findet es allerdings auch völlig unromantisch, über ein iPod zu singen; nicht zuletzt, weil eine für einen iPod komprimierte Musikdatei, wie Neil Young behauptet, nur armselige fünf Prozent von dem enthält, was ursprünglich in einem Studio aufgenommen wurde. Und er freut sich geradezu diebisch darüber, dass fünfzehn nummerierte Exemplare der White-Stripes-Single „Lafayette Blues/Sugar Never Tasted So Good“, die einst bei einem Auftritt in Detroit vergebens für sechs Dollar angeboten wurden, mittlerweile bei Versteigerungen Preise zwischen dreizehn- und achtzehntausend Dollar erzielen.
Ähnliche Wertsteigerungen registrieren auch die Sex Pistols. Eine Promo-Acetat-Single mit den Songs „God Save The Queen“ und „No Feelings“ aus dem Jahr 1977, die es nur zwei Mal gibt, wurde von Ebay im Juni diesen Jahres für fast 20.000 Dollar versteigert. 2006 war eine weitere bereits für 16.000 Dollar verkauft worden, und rare Pressungen anderer Labels wurden für 17.000 (A&M) bzw. 23.000 Dollar (Town House) verkauft. Kein Wunder also, dass die Pistols anlässlich des 35. Jubiläums der Veröffentlichung ihrer dritten Single „Pretty Vacant“ eben diese im Juli 2012 erneut herausgebracht haben — als Picture Disc in einer limitierten Auflage von 3.500 Exemplaren.
Abgesehen von solchen Sammlerexzessen liegt der Marktanteil von Vinyl seit Jahren relativ stabil bei etwa einem Prozent. Zwar soll sogar Steve Jobs, wie Neil Young nach dem Tod des Apple-Chefs kolportierte, privat Vinyl-Platten aufgelegt haben, verglichen mit der CD, die 2011 noch immer fast drei Viertel des Umsatzes ausmachte, mit Downloads, die mittlerweile knapp fünfzehn Prozent erzielen, und DVDs, die es auf etwa sieben Prozent bringen, nimmt sich das Geschäft mit Vinyl-Platten aber wie ein Nischenmarkt ohne große wirtschaftliche Bedeutung aus. Doch während die CD bald wieder von der Bildfläche verschwunden sein wird, ist ein Ende der Schallplatte aus Polyvinylchlorid nicht in Sicht. Längst gelten Plattenspieler als Lifestyle-Produkt, das wahre Fans von der Masse der Hörer unterscheidet. Und Bands, die etwas auf sich halten, legen wieder verstärkt Wert darauf, dass ihre Musik auch auf Vinyl erscheint. Denn an seine erste Schallplatte kann sich jeder erinnern, aber wer weiß schon noch, welcher Track der erste war, den er sich runtergeladen hat.
Gleichwohl unterstellt man Vinyl-Sammlern immer noch, nostalgisch und sentimental zu sein, irgendwie von gestern — ein Vorurteil, das so alt ist wie die CD. Dafür haben sie aber auch mehr zu lachen. Denn wer in der CD-Ära oder im Zeitalter des Internet geboren wurde, versteht diesen Witz schon nicht mehr: Warum eignen sich Nazis nicht als DeeJays? Weil sie nicht den Unterschied zwischen 33 und 45 begreifen.
Veröffentlicht in Prego: 02/12