Move like Jagger
Beim Schreiben meines Buches Sex, Love & Rock’n'Roll war mir aufgefallen, wie ungerecht wir doch Mick Jagger beurteilen, ohne den die Rolling Stones 2012 nicht ihr 50-jähriges Bestehen feiern könnten. Da traf es sich gut, dass ich von Prego:, dem schicken Kundenmagazin der edel company, anlässlich des Erscheinens einer Jagger-Biografie von Marc Spitz um ein Mick-Jagger-Porträt gebeten wurde, das schließlich in Heft 02/11 zwischen Beiträgen des Sprachpapstes Wolf Schneider und des Künstlers Dieter Meier (Yello) erschien — nicht die schlechteste Gesellschaft.
Move like Jagger
Der Mann kann es aber auch keinem recht machen. Für die einen ist er ein widerlicher Lustgreis, der mit Frauen rummacht, die gut und gerne seine Töchter sein könnten. Für die anderen ist er nur noch ein reicher Sack, der schon seit mehr als 30 Jahren kreativ auf der Stelle tritt und sich vom Bürgerschreck zum Rock-Unternehmer gewandelt hat. Und statt zum 50-jährigen Bestehen der Rolling Stones mit ihnen auf Welttournee zu gehen und zum x-ten Mal die Hits von Anno Dunnemals zu spielen, umgibt er sich auch noch mit jungen Spunden wie Joss Stone oder Damian Marley und nimmt mit ihnen eine Platte auf, wie sie die Stones nur in ihren besten Zeiten hingekriegt haben.
Die Sympathien sind selbst bei eingefleischten Stones-Fans klar verteilt. Während Keith Richards sich so ziemlich alles herausnehmen kann und die Welt den Atem anhält, wenn er beim Versuch, zu zeigen, was für ein Teufelskerl er doch ist, von der Palme fällt, wird Mick Jagger verhöhnt und verspottet, wo es nur geht. Nimmt Richards ein Solo-Album auf, wird es von der Journaille in den höchsten Tönen gelobt, weil er sich darauf musikalisch treu geblieben sei, und der Umstand, dass es sich nicht sonderlich gut verkauft hat, wird damit entschuldigt, dass Keith eben keinen Disco-Pop fabriziere, sondern seine Leidenschaft weiterhin dem Rhythm & Blues gehöre — und der sei nun mal nichts für die breite Masse. Tut Jagger das, heißt es gleich, dass er wohl eitel oder größenwahnsinnig sei, und hämisch wird darauf hingewiesen, dass seine Solo-Alben gefloppt seien. Wen interessiert es schon, dass sich Jaggers Solo-Alben weit besser verkauft haben als die von Richards — von den letzten Studio-Alben der Stones mal ganz zu schweigen?
Dabei war es Mick, der sich in Altamont seiner Verantwortung bewusst war und verzweifelt versuchte, die gewalttätigen Übergriffe der Hells Angels auf die Fans zu stoppen. Der die Rolling Stones zusammenhielt, als Keith in den siebziger Jahren mehr an der Nadel als an den Titten von Anita Pallenberg hing. Es war Jagger, der sich von Tina Turner zeigen ließ, wie man den Sideways Pony tanzt, und so aus einem Blues-Konzert eine Show machte. Der sich um die Promotion kümmerte und die Tourneen und neue Platten, und der die Band nicht nur vor dem Konkurs rettete, sondern aus ihr ein höchst profitables Wirtschaftsunternehmen machte, das die Stadien der ganzen Welt füllt — und dem nicht zuletzt Richards seinen Reichtum zu verdanken hat.
Es war aber auch Mick Jagger, der Platten von Chuck Berry und Muddy Waters unterm Arm trug, als Keith Richards ihn 1961 auf dem Bahnsteig von Dartford kennen lernte, und der bis heute neuen Trends in der Popmusik nachspürt und sie für die Stones adaptiert, statt sich immer nur um die eigene Achse zu drehen und die ewig gleichen Riffs zu spielen. Und es war Jagger, der sich die energiegeladenen Sex Pistols im 100 Club live ansah und sich von der Atmosphäre und dem Disco-Sound des New Yorker Studio 54 inspirieren ließ — statt nur darüber zu nörgeln oder solch wichtige musikalische Entwicklungen einfach zu verschlafen.
Was haben wir dem Mann doch Unrecht getan. Während Keith zur Kultfigur wurde, weil er im Verlauf von Interviews so viel Rebel Yell soff, dass sein Gelalle am Ende völlig unverständlich war, kursierten über Jagger alle möglichen Gerüchte, die von Keith-Fans alsbald eifrig verbreitet wurden. Zum Beispiel, dass er bei der ersten großen Stadiontournee der Stones 1982 seine Hose vorne mit einer Hasenpfote ausgepolstert habe. Dass er sich die Achselhöhlen mit einem Schweißspray präpariere, damit er verschwitzt aussehe. Oder dass man ihn zusammen mit David Bowie im Bett erwischt habe. Jagger hat all das nie dementiert, weil er immer genug anderes zu tun hatte, das ihm erfolgversprechender erschien.
„Exile On Main Street” gilt noch immer — etwas zu Unrecht — als das beste Stones-Album aller Zeiten, und dass Mick Jagger es vorzog, sich in Paris mit seiner neuen Flamme Bianca zu vergnügen, statt in Nellcôte zu warten, bis Keith Richards aus dem Delirium erwachte, wirft man ihm noch heute vor. Damals wurde der Grundstein gelegt für das Negativimage, das ihm heute noch anhängt, und seitdem gilt Jagger als geldgeil, geizig und uncool. Als machtgieriger Gockel, der sich (wie zuvor schon Brian Jones) zum Chef der Stones aufschwingen wollte, und als Memme, die aus einer kurzen Inhaftierung wegen Drogenbesitzes eine Staatsaffäre machte (auf die Richards noch heute stolz ist) und mit dem Satanismus nur flirtete, statt ihn aus Überzeugung zu praktizieren. Der Mann war ja noch nicht mal richtig drogenabhängig!
Anders als Richards, der über seinen Songwriting-Partner vom Leder zog, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot, und auch nicht davor zurückschreckte, sich in seiner Autobiografie über Jaggers angeblich unnormal kleinen Mick lustig zu machen, lehnte der, ganz Gentleman, es stets ab, zu kommentieren, was über sein Privatleben und seine Privatsphäre kolportiert wurde. Mochte Uschi Obermaier ruhig die sexuellen Leistungen von Keith Richards übern grünen Klee loben — mit ihm, Mick, war sie aber zuerst ins Bett gegangen. Sollte Marianne Faithfull doch über ihn herziehen — tut das nicht jede Frau, die verlassen wird? Und hat er nicht bislang noch jede seiner Ehefrauen großzügig abgefunden, statt sich, wie etwa Paul McCartney, in einen Rosenkrieg zu stürzen? Nach der Scheidung von Jerry Hall hütete er gar daheim die gemeinsamen Kinder, während sie sich emanzipierte und in London als Mrs. Robinson auf der Bühne stand. Und so ein schlechter Ehemann kann Jagger trotz aller Eskapaden nicht gewesen sein — ihre Liaison dauerte schließlich 23 Jahre.
Vor allem aber: Spricht es nicht für seine Größe, Keith Richards’ Autobiografie „Life” zu autorisieren, ohne ihm die despektierlichen Äußerungen über sein Gemächt zu streichen, weil das nun wirklich niemand etwas angeht? Oder sich dagegen zu verwahren, dass Freund Keith ihn als Emporkömmling darstellt, der sich zum Ritter schlagen ließ, weil er schon immer adlig sein wollte? Egal, was Keith seinem Band-Kumpel vorwarf, Mick stand stets über den Dingen und ließ alles stoisch über sich ergehen, in der Gewissheit, dass schon morgen eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird.
Statt selbst eine Autobiografie zu schreiben, hatte er den Vorschuss, immerhin eine Million Dollar, wieder zurückgezahlt — weil er lieber nach vorne blicken wollte statt sich in der Vergangenheit zu suhlen. Seine Lippen, die einst die Vorlage für das berühmteste Marken-Logo der Welt abgegeben hatten, blieben versiegelt, wann immer ihm eine Affäre angekreidet oder nachgewiesen wurde. Und anders als Brian Jones, James Brown, Ike Turner oder Johnny Thunders hat er Frauen nie geschlagen, sondern immer nur geliebt, auch wenn er sie wechselte wie Keith Richards seine Hemden — gefühlt alle paar Jahre.
Das ist es letztlich auch, was man ihm vorwirft: dass er im fortgeschrittenen Alter nicht brav zu Hause sitzt und Kreuzworträtsel löst wie Francis Rossi von Status Quo, sondern sich mit einem brasilianischen Model vergnügt, von dem Iggy Pop sagt, dass er es auch gerne geschwängert hätte. Dass er noch im Rentenalter als Fan (von Jenson Button) zu einem Formel-1-Rennen düst oder zur Fußball-WM nach Südafrika jettet . Und dass er es auch mit 68 nicht lassen kann, sich die Seele aus dem Leib zu singen und Musik zu produzieren, die pumpt und pusht und superheavy ist, also so wie die der Stones schon seit zig Jahren nicht mehr.
Statt ihm das anzukreiden, sollten Stones-Fans Mick Jagger also lieber die Daumen drücken, dass er es noch einmal schafft, Keith Richards so auf die Palme zu bringen, dass der nicht runterfällt, sondern Songs schreibt, die so energiegeladen und auf der Höhe der Zeit sind wie die von SuperHeavy. Denn was könnte ein alter Mann, der Zeit seines Lebens in einer Rock’n’Roll-Band gespielt hat und dem Maroon 5 mit ihrem diesjährigen Sommer-Hit „Move Like Jagger“ ein Denkmal gesetzt haben, auch sonst tun? Für eine Karriere als Fußball-Profi ist es längst zu spät, und an einem Vergaser kann er immer noch rumfummeln, wenn die Frauen vor ihm davonlaufen. Damit ist allerdings nicht so bald zu rechnen. Denn wie sagte schon Udo Lindenberg: Der Greis ist heiß.