skaichannel

You're never too young to be a dirty old fan

Subkultur Westberlin 1979 – 1989


Nach Westberlin zog es westdeutsche Teens und Twens in den Sechziger- und Siebzigerjahren nicht nur, um dort zu studieren oder dem Kriegsdienst in der Bundeswehr zu entgehen. Im Schatten der Mauer, die die West-Sektoren umgab und einschloss, entwickelte sich in dieser Zeit auch eine Subkultur, die es ihnen gestattete, sich künstlerisch oder sonst wie auszudrücken, ohne einer geregelten Arbeit nachgehen zu müssen. Stars wie David Bowie oder Iggy Pop lebten damals recht unbehelligt im Westteil der Stadt und nahmen ihre nachhaltigsten Alben im Studio „Hansa by the Wall“ auf. Und Kunststudenten wie der Wolfsburger Wolfgang Müller konnten sich hier entfalten und (Musik-) Gruppen wie Die tödliche Doris gründen, weil die Karriere im hochsubventioniertem Berlin nicht an erster Stelle stand.
Mehr als 20 Jahre später blickt Müller nun zurück auf diese Stadt und erinnert an jene Zeit, in der der Punk nach Deutschland kam und alles möglich zu sein schien. Seine 600 Seiten dicke Geschichte der „Subkultur Westberlin 1979 – 1989“ (Philo Fine Arts) ist jedoch keine vollständige Chronik der Berliner Underground-Szene, sondern ein sehr subjektiver und höchst lebendiger Rückblick auf ein Jahrzehnt, der aus vielen kleinen Begebenheiten und Erlebnissen besteht, die zusammen ein äußerst dichtes und stimmiges Bild ergeben vom Leben in der Mauerstadt vor der Wiedervereinigung. Müller erzählt sozusagen aus erster Hand, wie die Genialen Dilletanten und Bands wie die Einstürzenden Neubauten entstanden sind, der heute berühmte (und längst verstorbene) Künstler Martin Kippenberger den Kreuzberger Punk-Club SO 36 übernahm oder die Bar „Kumpelnest 3000“ als Abschlussarbeit eines Kunststudenten entstand und schon bald von Promis wie Claudia Schiffer, Alfred Biolek oder Florian Schneider (Kraftwerk) frequentiert wurde. Hat man erst einmal angefangen, den knapp 600 Seiten dicken Report einer Epoche zu lesen, legt man das Buch nicht mehr aus der Hand und bedauert zutiefst, dass diese Ära mit dem Fall der Mauer unwiderruflich zu Ende ging und Originale wie Ratten-Jenny oder Straps-Harry vom Bionade-Biedermeier an den Rand gedrängt wurden. Müllers Verdienst besteht letztlich eben genau darin: an all die Freaks und Lebenskünstler zu erinnern, deren radikale, waghalsige und couragierte Experimente später von anderen aufgegriffen und kommerziell ausgeschlachtet wurden.

Schlagworte: , ,

Kommentar schreiben